Von JONATHAN HOUSE | The Wall Street Journal (Deutschland)
Die vorgezogenen Neuwahlen in Katalonien am kommenden Sonntag könnten
den Weg für die wohlhabende Region im Norden Spaniens ebnen, sich in
die Unabhängigkeit zu verabschieden. Und das von harten
Sparanstrengungen ohnehin schwer geplagte Spanien könnte dadurch sogar
in eine Verfassungskrise rutschen.
Die Katalanen fühlen sich im spanischen Staatsgefüge schon seit langem
benachteiligt. Von den Steuereinnahmen, die sie generierten, fließe
ein zu großer Anteil an ärmere Gegenden Spaniens, lautet ihre
traditionelle Klage. Neue Nahrung erhielten ihre Beschwerden durch
Budgetkürzungen, die in fast keiner anderen spanischen Region so
massiv ausfielen wie in Katalonien. Die Region zahle jedes Jahr rund
15 Milliarden Euro mehr, als ihr von der spanischen Staatskasse
zurücküberwiesen werde, rechnen Regierungsvertreter in Barcelona vor.
Präsident Artur Mas will im Falle seiner Wiederwahl am Sonntag ein
Referendum über die Unabhängigkeit der autonomen Gemeinschaft abhalten
lassen. Und von seinem Sieg ist auszugehen.
Im Alleingang kann Mas die Volksabstimmung allerdings nicht
durchboxen. Ein Referendum kann nur die Zentralregierung in Madrid
absegnen. Und der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy hat den
katalanischen Separatisten bereits eine Abfuhr erteilt. Allerdings
bereitet Mas dem Staatschef, der bereits mit der Stabilisierung der
prekären finanziellen Lage des Landes über Gebühr beschäftigt ist, mit
seinem Gesuch zusätzliches Kopfzerbrechen.
Fallen die Katalanen ab, könnte dies das Scheitern der
verfassungsmäßigen Ordnung Spaniens bedeuten. Mit Hilfe der Verfassung
sollen seit dreißig Jahren historische Differenzen zwischen Madrid und
Katalonien und dem Baskenland - beides Regionen mit ihrer eigenen
Sprache und kulturellen Identität – übertüncht werden, indem ihnen ein
großes Ausmaß politischer Autonomie zugestanden wird.
1,5 Millionen demonstrierten in Barcelona
Nach Ansicht von Beobachtern könnte die Krise entschärft werden, wenn
Madrid den Katalanen die Kontrolle über ihre eigenen Steuereinnahmen
abtreten und den Anteil an den Beiträgen, die sie dem spanischen
Staatssäckel überantworten müssen, drastisch reduzieren würde.
Derartige Schritte könnten allerdings gegen die Verfassung verstoßen.
Und außerdem würden dann ausgerechnet in Zeiten einer tief greifenden
wirtschaftlichen Notlage weniger Gelder in andere Regionen des Landes
fließen. Wie verheerend es im besonders klammen Süden Spaniens
aussieht, haben jüngst die Müllfahrer im andalusischen Jerez de la
Frontera der Öffentlichkeit besonders deutlich vor Augen geführt. Sie
traten in diesem Monat für 21 Tage in den Streik, um gegen geplante
Budgeteinschnitte zu protestieren. In der Stadt türmte sich der Müll
meterhoch, bis ihn die Anwohner schließlich mitten auf der Straße
verbrannten.
Doch Rajoy kann es sich auch nicht leisten, die Beschwerden der
Katalanen einfach wegzuwischen und zu ignorieren. Am 11. September,
dem Nationalfeiertag Kataloniens, zogen mehr als 1,5 Millionen
Menschen durch die Straßen von Barcelona und forderten die
Unabhängigkeit. Noch nie zuvor waren so viele Demonstranten in der
Regionalhauptstadt gezählt worden.
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Aber auch Mas sitzt in der Klemme. Abgesehen von den rechtlichen
Hürden, die bei der Einberufung eines Referendums zu überwinden sind,
wäre der Ablösungsprozess seiner Region von Spanien mit großen
Schwierigkeiten verbunden. Vertreter der EU haben bereits gewarnt, im
Falle einer Sezession sei es unwahrscheinlich, dass Katalonien ein
Mitglied der Europäischen Union bleiben kann. Doch die
Abspaltungsbemühungen abzubrechen, könnte das politische Ansehen von
Mas schwer beschädigen. In einer Umfrage, die das Zentrum für
Meinungsforschung der katalanischen Regierung jüngst veröffentlichte,
gaben 57 Prozent der Befragten an, bei einer Volksabstimmung zur
Unabhängigkeit mit „Ja" stimmen zu wollen. „Wir haben keinen Plan B",
sagt Oriol Pujol, die Nummer zwei der Partei Convergència i Unió
(CiU), die Mas anführt.
Überrascht von den massiven Demonstrationen in Barcelona und nachdem
er von Rajoy bei Verhandlungen für einen verbesserten Finanzausgleich
abgewiesen worden war, setzte Mas um zwei Jahre vorgezogene Neuwahlen
an. Und er stellte den Wählern in Aussicht, zu einem noch nicht näher
bestimmten Zeitpunkt während der vierjährigen Amtszeit der nächsten
Regierung eine Volksabstimmung abhalten zu wollen. Mit ihrem Streben
nach Unabhängigkeit wendet sich die gemäßigt nationalistische Partei
von Mas von ihrem bisherigen Kurs ab. Bisher hatte die CiU sich zwar
immer für eine stärkere Autonomie Kataloniens eingesetzt, die Region
sollte dabei aber ein Teil Spaniens bleiben.
Rajoy bietet Gespräche an
Der Wunsch nach Unabhängigkeit habe sich während der vergangenen zehn
Jahre in der katalanischen Gesellschaft immer mehr verstärkt. Denn die
spanische Regierung habe ihre Versuche, autonomer zu werden, immer
wieder durchkreuzt, sagt CiU-Vize Oriol Pujol. Er ist der Sohn von
Jordi Pujol, der 24 Jahre lang als Regierungschef Kataloniens diente.
Die Finanzkrise habe diesen Prozess beschleunigt. Sie habe Katalonien
besonders hart getroffen, denn neben dem unfairen staatlichen
Finanzierungssystem leide die Region unter einem umfangreichen
Schuldenberg, den die Vorgängerregierung unter der Führung der
Sozialisten ihr hinterlassen habe, sagt Pujol.
Die neue Regierung Kataloniens wolle mit Madrid Gespräche über die
Volksabstimmung zur Unabhängigkeit eröffnen. Falls die
Zentralregierung ablehne, wolle man nach Wegen suchen, um sich die
rechtliche Unterstützung dafür im EU- oder im Völkerrecht zu sichern,
kündigt Pujol an.
Rajoy wiederum hat Gespräche mit den Regierungen der 17 spanischen
autonomen Gemeinschaften angeboten, um über eine Reform des regionalen
Finanzierungsverfahrens zu verhandeln. Viele Katalanen hegen
allerdings Zweifel, dass dies zu einer bedeutenden Verbesserung für
ihre Region führen würde.
„Man kann sich leicht vorstellen, dass bei einer Debatte, an der alle
Regionen beteiligt sind, alle anderen sich gegen die Idee aussprechen,
dass Katalonien seinen Beitrag reduziert", den die Region an den Rest
transferiert, meint Josep González, Leiter des Verbands Pimec, der
kleine und mittelständische Firmen repräsentiert.
Mas ist klarer Favorit
„Die Katalanen tragen Ausgabenkürzungen mit, die doppelt so tief gehen
wie bei allen anderen … eine Vermögenssteuer, die es nur in wenigen
Regionen gibt, und eine Tourismussteuer, die niemand sonst hat",
erklärt Pujol.
Auch viele Neuankömmlinge in Katalonien sind vom Unabhängigkeitsfieber
erfasst worden. Bei einer Wahlkampfveranstaltung von Mas, die auf die
große Einwanderergemeinde der Region abzielte, gab sich Raúl Castro,
ein 49-jähriger Rechtsanwalt aus Ekuador als Anhänger des
Regierungschefs zu erkennen. Er unterstütze sein Programm. "Das ist
eine positive Botschaft, eine Botschaft der Geschlossenheit…Wir
gründen eine neue Nation", begeistert sich Castro. Am Ende der
Veranstaltung im Zentrum für zeitgenössische Kultur in Barcelona
erhoben sich die Besucher und stimmten die katalanische Hymne „Els
Segadors" an.
Die CiU von Mas will in dem stark fragmentierten Parlament Kataloniens
die Mehrheit der 135 Sitze erringen. Jüngste Umfragen legen nahe, dass
er dieses Ziel vielleicht nicht ganz erreichen wird, auch wenn er mit
weitem Abstand die meisten Stimmen ergattern dürfte. Nach den Wahlen
wird sich Mas allerdings auf die Unterstützung kleinerer Parteien, die
sich ebenfalls für die Unabhängigkeit stark machen, verlassen können,
um seine Referendumspläne voranzubringen. Zu den größten unter ihnen
zählt die Republikanische Linke Kataloniens, die seit langem für die
Unabhängigkeit plädiert.
Gegen die Unabhängigkeitswelle stemmt sich Alicia Sánchez-Camacho, die
Chefin von Rajoys konservativer Partido Popular in Katalonien.
„Derzeit erhält die nationalistische Stimmung aus wirtschaftlichen
Gründen vorübergehend Auftrieb. Aber dabei handelt es sich nicht um
einen tief verwurzelten strukturellen Wandel mit einer ideologischen
Basis", beurteilt sie die Lage. „Ja zu Katalonien, aber auch zu
Spanien", lautet ihr Wahlkampfmotto. Und sie umwirbt Wähler jeglicher
Couleur, die sich vor den Aussichten auf eine Unabhängigkeit fürchten.
Sanchez-Camacho könnte laut Umfragen bei den Wählerstimmen auf Platz
zwei landen.
Salvador Giner leitet das Institut für katalanische Studien. Er ist
skeptisch, ob die Region die Unabhängigkeit erlangen kann. Sie stelle
einen integralen Bestandteil Europas dar, führt er an. Und die
Katalanen würden ihre EU-Mitgliedschaft nicht gefährden wollen. Doch
die Angriffsstrategie von Mas sei ein wirkungsvoller Weg, um das
Bewusstsein für die Beschwerden der Region, ihren Wunsch nach größerer
Autonomie und einem besseren Finanzierungssystem zu schärfen, räumt er
ein.
Nach den Wahlen „werden wir mit dem spanischen Staat verhandeln", sagt
Giner. „Verhandeln – genau das haben wir ja auch schon die letzten
1.000 Jahre gema
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The Wall Street Journal: 'Kataloniens Ruf nach Unabhängigkeit wird lauter' #news #politics #eu #usa
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on Saturday, November 24, 2012
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